Wien und der Tod
Text: Emely Nobis / Bild: Frits Roest
Wien feiert das Leben und damit den Tod… So erklärt die Historikerin Hilde Schmölzer in ihrem Buch A Schöne Leich die besondere Todeskultur in Wien. Lebensfreude und fröhliche Geselligkeit gehen Hand in Hand mit Traurigkeit, Todesangst und Melancholie. Es könne kein Zufall sein, so Schmölzer, dass gerade der Wiener Psychiater Sigmund Freud den Todestrieb als Gegenstück zum Lebenstrieb (Eros) erfunden habe. Der Tod wird nicht nur in zahlreichen Wiener Heurigenliedern gesungen, die Wiener sind auch Profis darin, ihm die letzte Ehre zu erweisen. „A schöne Leich“ bezieht sich nicht auf eine schön gestaltete Leiche, sondern auf ein pompöses Begräbnis, das sich jeder gerne ansieht. ‚Wenn i amal stirb, stirb, müssn mi d’Fiaker tragen und dabei Zithern schlagen, weil i des liab, des liab‚, nach dem Beginn eines Wiener Liedes von 1865. Es war die Zeit, in der ein Leben voller Spaß und Feiern in einer allerletzten Feier enden musste: der schönsten überhaupt.
Zumindest war das für das wohlhabende Bürgertum und den Adel der Fall. Sobald eine Todesanzeige in der Zeitung erschien, begannen Hauseigentümer damit, „Fensterbänke“ für 500 bis 1.000 Kronen (jetzt 800 Euro oder doppelt so viel) entlang der Route des Trauerzuges zu vermieten. Diese Logenplätze mit Champagner und gutem Blick auf die ’schöne Leich‘ waren in kürzester Zeit ausverkauft, ebenso wie die Sitze und Stände bei Trauermessen für die High Society im Stephansdom. Ein solcher Trauerzug war ein wahres Spektakel: eine schier endlose Parade von Priestern, Ministern, Mönchen, Sargträgern, Berufstrauernden, Musikern, Sängern, Laternenträgern… wobei jede Gruppe eine andere Uniform trug. Das schwere Leichentuch über dem Sarg (das den Gestank überdecken sollte) war aus kostbarem Material gefertigt. Je mehr Geld, desto mehr läuteten die Glocken, desto länger die Totenmesse und desto dekadenter die Leichenschmaus: das Fest nach der Beerdigung – denn man musste das Leben in vollen Zügen genießen, auch oder gerade im Angesicht des Todes.
Sarg-Krieg
Auch die weniger Glücklichen entgingen dieser Begräbnispomp nicht, obwohl ganze Familien in finanzielle Schwierigkeiten gerieten. ‘Man habe sich beynahe mehr für die Beerdigung als für den Tod selbst zu fürchten’, kritisiert ein anonymes Pamphlet von 1781 das „Hüpsch“ (schön) bestatten. Dass sich die Wiener ihr Begräbnis dennoch nicht nehmen lassen wollten, wurde während des so genannten Sargkrieges zur Zeit Kaiser Josephs II. (1741-1790) deutlich. Teil seiner Josefinischen Reformierung des Bestattungssystems war ein Verbot (aus triftigen hygienischen Gründen) von Bestattungen in Krypten von Kirchen, Klöstern und Krankenhäusern sowie die Verlegung von Friedhöfen von der Stadt an die Peripherie. Das war schon gegen das wunde Bein der Wiener, denn die Fahrt zu einem solchen neuen städtischen Friedhof war für den Trauerzug zu lang (mindestens zwei Stunden). Dies bedeutete, dass nach der Totenmesse in der Kirche von dem Verstorbenen Abschied genommen werden musste. Vorbei mit dem gemütlichen ‚Gemma Friedhof Schauen‚.
Was die Bevölkerung jedoch bis in die Tiefe ihrer Seele berührte, war die Einführung des wiederverwendbaren Sarges und die obligatorische Bestattung in Schachtgräbern. Nach einem Erlass vom 23. August 1784 musste jeder Tote – nackt in einen weißen Leinensack eingenäht – in einem Sarg mit ausklappbarem Boden zum Friedhof getragen und dort in einem anonymen Schachtgrab ohne eigenen Grabstein beigesetzt werden. Durch Ziehen eines Hebels über dem Schacht klappte der Sarg auf und die Leiche stürzte hinab. Etwas Kalk und Erde wurde darüber geworfen und sowohl Sarg als auch Grab waren für die nächste Leiche bereit. Josef II. wollte verhindern, dass Menschen sich überschuldeten, aber von viel Fingerspitzengefühl zeugte das nicht.
In der gesamten Monarchie begann ein Sturm des Protestes. Ohne ihr eigenes Grab (Denkmal) war es unmöglich, der Außenwelt zu zeigen, wie edel oder wohlhabend der Verstorbene gewesen war. Noch schlimmer für die Bessergestellten: Man könnte mit dem einfachen Volk in einem Grab enden: ‚Der Bettelmann liegt auf der Adelsfrau, wie lange weiß keiner genau.‘
Der Widerstand der Bevölkerung führte fast zum Bürgerkrieg (d.h. zum Sargkrieg), und weniger als sechs Monate nach seiner Einführung, am 27. Januar 1785, musste der Kaiser seine Reform rückgängig machen. Der Tod in Wien blieb barock und pompös.
Natürlich ließ sich damit eine Menge Geld verdienen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es in Wien 85 private Bestattungsinstitute, die ziemlich weit gingen, um Aufträge zu erhalten. Sie gaben den Türstehern der Wohnkasernen der Stadt ein paar Kronen, um als erste über den Tod eines Bewohners informiert zu werden. Regelmäßig hatten mehrere Leichenfladerer – wie sie genannt wurden – tagelang vor Häusern gewartet, in denen jemand im Sterben lag. Der Meistbietende durfte manchmal eintreten (und wartete dann buchstäblich am Sterbebett), bis der Tod tatsächlich eingetreten war. Um solchen schamlosen Praktiken ein Ende zu setzen, beschloss Bürgermeister Karl Lueger (1844-1910), die Trauerfeier zu monopolisieren. Im Jahr 1907 kaufte die Stadt die beiden größten Bestattungsunternehmen und gründete die Erste Wiener Leichenbestattungsanstalt. Erst 2002 wurde das (durch die EU-Gesetzgebung erzwungene) Stadtmonopol abgeschafft und seitdem sind wieder mehr als dreißig Bestattungsunternehmen in der Stadt tätig.
Herzlos
Die intime Beziehung zwischen Wien und dem Tod spiegelt sich auch in einer Reihe von mehr oder weniger morbiden touristischen Attraktionen wider. Die edelsten schönen Leichen befinden sich in der Kapuziner- oder Kaisergruft unter der Kapuzinerkirche im Zentrum ( Neuer Markt/Tegetthoffstraße 2). Seit 1633 werden hier die österreichischen Habsburger in teils monumentalen Blei- oder Bronzesärgen beigesetzt, die auf Beinen mit Klauen, Löwenschultern oder Marmorsockeln stehen, oft mit symbolischen Verzierungen wie gekrönten Schädeln. Kaiserin Maria Theresia (1717-1780) liegt hier mit ihrem Gemahl in einem eher monströsen Grab wie in einem Ehebett.
Die letzten Habsburger, die hier begraben wurden, waren Zita (1989), Gattin des letzten österreichischen Kaisers Karl I. und ihr Sohn Otto von Habsburg (2011). Während des 1,3 Kilometer langen Trauerzuges für Zita zur Kapuzinergruft, standen 40.000 Menschen entlang der Strecke im Stadtzentrum. Bei der Beerdigung Otto von Habsburgs liefen 3.500 Menschen im Trauerzug mit, und Tausende von Menschen standen am Straßenrand. Für eine schöne Leiche kommen die Wiener immer noch vor die Tür. Insgesamt liegen 150 Habsburger in der Kaisergruft. Von denjenigen, die vor 1878 bestattet wurden, wurden Körper, Herz und Eingeweide getrennt bestattet. Die Eingeweide werden in der Herzogsgruft im nahe gelegenen Stephansdom (Stephansplatz 3). Ein Besuch ist Teil einer Führung durch die unterirdischen Katakomben dieser Kirche.
Die Loretokapelle mit 54 silbernen Urnen mit Habsburger Herzen befindet sich in der Augustinerkirche (Augustinerstraße 3) und kann sonntags nach dem Hochamt mit einem Führer besichtigt werden.
Leichen schauen

50 Holzsärge wurden akribisch gesäubert und konserviert.
In einer anderen Krypta, unter der Michaelerkirche in der Nähe der Hofburg ((Michaelerplatz 4–5), kann man buchstäblich Leichen betrachten. Nirgendwo ist der Tod so sichtbar präsent, dank der etwa fünfundzwanzig mumifizierten Körper. Von einigen sind sogar die Trauerkleider noch in nahezu perfektem Zustand vorhanden. Sie wurden alle zwischen 1750 und 1780 bestattet. Die Tatsache, dass sie so gut erhalten sind, ist mehr oder weniger ein Zufall: eine Folge der Luftzirkulation (wegen des Gestanks gab es Luftlöcher nach außen), kombiniert mit der Tatsache, dass die Leichen in ihren Särgen auf Holzspäne gelegt wurden, um besonders sanft zu ruhen. Dies hatte den Nebeneffekt, dass die Leichenflüssigkeit absorbiert wurde, so dass der Körper austrocknen und mumifizieren konnte.
In dieser Gruft mit zahlreichen niedrigen, engen Gängen liegen Adel und Bürgertum durcheinander: je näher am Hauptaltar, desto teurer und besser für die Seele des Verstorbenen. Die trauernde Familie verabschiedete sich bereits in der Kirche und kam nie in die Krypta selbst. Infolgedessen war der Umgang mit Särgen hier nicht sehr zimperlich und sie wurden rücksichtslos gestapelt. Die letzte Bestattung in der Michaelergruft fand 1783 statt. Aus den erhaltenen Aufzeichnungen ist bekannt, dass hier insgesamt mehr als viertausend Menschen bestattet wurden. Die Tatsache, dass jetzt nur noch etwa 250 Särge vorhanden sind, hat mit Platzmangel zu tun. Als der Keller voll war, wurden ältere Särge auseinandergenommen (und als Brennholz verwendet), die sterblichen Überreste wurden in Nischen gestapelt und teilweise auf dem Boden des Kellers ausgebreitet und mit einer Schicht Erde bedeckt. Während einer Führung geht man buchstäblich über eineinhalb Meter Knochen und Schädel.
Zentralfriedhof
Bei einem Post-Mortem-Bericht durch Wien ist ein Besuch des 1874 eröffneten Zentralfriedhofs Pflicht. Mit einer Fläche von 2,5 Quadratkilometern ist dies nach dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg der zweitgrößte Friedhof in Europa und gemessen an der Zahl der Toten sogar der größte. Es stimmt zwar, dass es „nur“ 330.000 Grabsteine gibt, aber dank der Schachtgräber Josephs II. und der Tatsache, dass hier keine Gräber geräumt werden, gibt es drei Millionen Tote unter der Erde: mehr „Einwohner“ als die Stadt Wien oberirdisch hat!
Historisch interessant sind die fast eintausend Gräber für prominente Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur, Wissenschaft und Politik, die von der Gemeinde bezahlt und unterhalten werden. Zu den prominenten Persönlichkeiten zählen die Komponisten Franz Schubert, Antonio Salieri, Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms, Arnold Schönberg, der Walzerkönig Johann Strauß, der Sänger Falco, die Architekten Adolf Loos und Josef Hoffmann sowie der Schauspieler Curd Jürgens, dessen nächtliche Beerdigung immer noch fast achttausend Zuschauer anzog. Darüber hinaus beherbergt der Kapellenhof alle österreichischen Bundespräsidenten ab 1945.
Für viele Wienerinnen und Wiener ist ein Besuch des Zentralfriedhofs dank des vielen Grüns, der imposanten Jugendstilkirche zum Heiligen Karl Borromäus (im Volksmund nach dem damaligen Bürgermeister Karl Lueger-Kirche genannt) und des abschließenden Kaffees und Kuchen in der Kurkonditorei Oberlaa ein beliebter Ausflug.
Bestattungsmuseum
Der Künstler André Heller beschrieb den Zentralfriedhof einmal als ein Aphrodisiakum für Nekrophile. Das Bestattungsmuseum, das 1967 gegründet wurde und seit 2014 auf diesem Friedhof untergebracht ist, entspricht dieser Qualifikation. In einem schwach beleuchteten Raum wird die Geschichte der Trauerrituale, Trauergottesdienste und Friedhöfe in Wien erzählt und mit zahlreichen einzigartigen Objekten illustriert: der wiederverwendbare Sarg Josephs II., Wappen und Masken, historische Leichenwagen und Uniformen sowie ein maßstabsgetreues Modell einer Trauerstraßenbahn, die im Ersten und Zweiten Weltkrieg für den Transport der Toten aus verschiedenen Wiener Spitälern zum Zentralfriedhof eingesetzt wurde. In der Straßenbahn konnten die Särge wie in einem Bücherregal gestapelt werden. Zu sehen sind auch ein Dolch und eine Notglocke, die beide als Vorsichtsmaßnahme gegen ein lebendiges Begraben verwendet werden. Jeder Verstorbene in Wien musste vor der Beerdigung 48 Stunden lang in der Leichenhalle des Leichenschauhauses aufgebahrt werden, wobei an Fuß oder Handgelenk eine Glocke befestigt werden musste. Als der Wächter in der Halle daneben eine Glocke läuten hörte, musste er nachsehen, welcher der Verstorbenen sich bewegt hatte. Leider funktionierte das System nicht: Bei der Verwesung der Leichen wurde so viel Gas freigesetzt, dass sich immer wieder eine Leiche irgendwo bewegte und eine Glocke läutete. Am Ende machten sich die Wachen nicht einmal die Mühe, nachzuschauen. Zum Glück gab es noch den sogenannten Herzstich, den man zu Lebzeiten buchen konnte. Es war eine Art Todesfallversicherung, die dafür sorgte, dass der Arzt, der den Tod diagnostizierte, dem Toten zur Sicherheit einen Dolch ins Herz stach: ‚Lieber sicher tot als lebendig begraben.‘ Übrigens wird der Herzstich von der Bestattung Wien (so der heutige Name des städtischen Bestattungsunternehmens) immer noch als Zusatzleistung angeboten, obwohl er in der Praxis nicht mehr durchgeführt wird. Die Kosten betragen 350 Euro, die natürlich im Voraus zu entrichten sind.
Der Zentralfriedhof ist eine Stadt in der Stadt, mit einer eigenen Buslinie mit 22 Haltestellen. Von April bis Oktober fahren auch Fiaker (Pferdekutschen) über das Gelände entlang der schönsten Ehrengräber. Auch Führungen sind möglich. Der Friedhof ist täglich bis 18 Uhr geöffnet und kann mit der Straßenbahnlinie 71 erreicht werden (Haltestelle Zentralfriedhof, Tor 2). friedhoefewien.at
Das Bestattungsmuseum (unter der Aufbahrungshalle 2) ist auch über den Haupteingang des Zentralfriedhofes zu erreichen. Neben etwas makaberen Souvenirs (wie einem USB-Stick in Sargform oder Särgen aus Lego) gibt es im Museumsshop auch das Buch „A schöne Leich“ von Hilde Schmölzer zu kaufen. Das Museum ist an Sonn- und Feiertagen geschlossen; von Anfang November bis Anfang März ist es auch samstags geschlossen. bestattungsmuseum.at




Auf den Spuren von
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